Himmel der Apfelbäume
Dies ist mein Beitrag zur 3. Runde der Seppo Blog-Auszeichnung 2016. Lasst euch auf meine Gedankenreise mitnehmen…
Manchmal befindet man sich in einer Situation, hält inne und fragt sich: Wie bin ich hier gelandet? Ich stehe gerade unmittelbar davor, meinen Koffer zu packen. Mich beschleicht das Gefühl, dass dabei einige meiner (selbst mir bis dato unbekannten) Gesichter zum Vorschein kommen werden. Ein leerer Koffer bringt uns auf Reisen wenig, daher lege ich los. Irgendwie fühle ich mich gerade fremdbestimmt…
Hin und wieder stehen einem die Haare zu Berge. Um dies in der nasalen Gegend zu vermeiden, wandert ein Nasenhaartrimmer in meinen Koffer. So behalte ich auch am Ziel meiner Reise stets den rechten Riecher. Damit sich das lohnt, packe ich eine Duftkerze ein, Geschmacksrichtung Beere (denn egal ob Smoothie oder Marmelade, Beere ist immer die richtige Wahl). Natürlich schnuppert die nicht nach frisch gepflücktem Obst – oder wie Wikipedia sagt aus einem einzigen Fruchtknoten hervorgegangene Schließfrüchte – sondern chemischen Aromastoffen, die die bald frisierten Nasennebenhöhlen reizen. Welche ach so logischen Gepäckstücke leisten Nasenhaartrimmer und Duftkerze Gesellschaft? Da wäre ein H&M-Katalog. Eine Reminiszenz an die Jugend, in der ich häufig bei dem schwedischen Modehaus bestellte. Schließlich hat das nordeuropäische Land mehr zu bieten als Billy und Expedit. Etwas zusammengequetscht daneben landet ein Zylinder. Den gab es in der vorigen Ausgabe des Modekatalogs und ich musste ihn haben, denn in ihm hat mein Kopf reichlich Platz, seine wirren Gedanken zu stricken. Als nächstes geht’s für den Volleyball-Schläger in den Koffer. Wer mich kennt weiß: Fliegen irgendwo Bälle durch die Luft, zieht mein Gesicht diese magisch an. Damit mir während der Reise kein runder Unhold die Visage verzerrt, kommt der Schläger zur vorsorglichen Abwehr mit (wer sich über die Bezeichnung Volleyball-Schläger wundert, diese Spielart erlebt gerade in Köln einen richtigen Boom). Jetzt noch die Landkarte von Tasmanien… Bitte was? Wie ist die denn hier hergekommen? Ach ja, ich erinnere mich, als ich die Karte wende. Auf der Rückseite ist ein Kreuzworträtsel abgebildet, noch vollkommen leer. Während der Reise wäre vielleicht endlich mal die Gelegenheit, es zu lösen. Jetzt habe ich den kleinen Koffer schon fast voll gepackt mit dem Zeug, das mit auf die sonderbare Tour kommt. Wer mich kennt weiß, dass ich fast nirgendwo hingehe ohne meinen Kindle – ob auf dem Weg ins Büro, zum Sport oder in die Disko: Mein treuer E-Reader mit wochenlanger Akkulaufzeit und schier endlos vielen Geschichten ist immer mit von der Partie. Kein Wunder also, dass er mich auf diese Reise begleitet. Für den kleinen Cliffhanger zwischendurch: Einmal die Tür to go zusammenfalten und rein mit ihr in den Trolley. Die letzten Zentimeter Stauraum sind etwas ganz Besonderem vorbehalten: dem geheimnisvollen Kästchen. Darin befindet sich etwas für mich sehr Wertvolles, mein Medaillon. Und schon wieder solch ein Moment des plötzlichen Erwachens: Wieso trage ich die silberne Kette nicht wie immer an meinem Hals?
Es ist nun an der Zeit, diese besondere Reise anzutreten. Wohin sie mich führt, weiß ich in diesem Moment selbst noch nicht. Manchmal haben wir einfach das Bedürfnis loszufahren – da spielt das Ziel gar keine Rolle. Verdammt. Ich habe meinen Geldbeutel nicht eingepackt. Ohne Fahrkarte der regionalen Verkehrsbetriebe und EC-Karte könnte meine Reise eher beendet sein, als mir lieb ist. Doch Moment, da war doch noch der Cliffhanger. Ich durchsuche den Koffer und voilà: Da ist die Tür to go. Ich muss zwar dreimal ansetzen, bis ich den richtigen Ausklappmodus herausgefunden habe, doch dann steht sie wie eine Eins. Ich berühre langsam den Türgriff aus kühlem Metall, halte kurz inne und atme durch, bevor ich die Tür öffne. Dahinter liegt nur Weiß. Ich habe eine Vermutung, wohin mich dieses Portal führt. Ich habe lange davon geträumt, diesen Weg gehen zu können. Bisher schien es nicht möglich. Und trotz der Sehnsucht und der plötzlichen Möglichkeit, sie endlich zu stillen, muss ich meinen Mut zusammen nehmen, um den Schritt hindurch zu gehen.
In dem Moment, in dem ich durch diese Tür schreite, wird es kurz gleißend hell. Schützend halte ich die Hände vor die Augen, blinzle langsam und öffne dann sowohl Augen als auch Geist für diesen Ort. Ich befinde mich auf einer großen Wiese, die Sonne scheint und es scheint Frühling zu sein. Hier und da sehe ich Apfelbäume. Obwohl mir meine Allergie bewusst ist, kann ich nichts anders und pflücke mir einen. Und beiße ein großes Stück ab. Ich warte kurz etwas ungläubig. Doch nichts. Kein Übelkeitsgefühl, kein Kratzen – nur der leckere Apfelgeschmack. Ich lächle und gehe weiter.
Zu meiner Überraschung sehe ich Blumen – ich nehme an, hier an diesem Ort kümmert sich jemand um ihr Wohlbefinden, dessen Daumen deutlich grüner ist als meiner. Tulpen und Rosen. Sie wachsen quer durcheinander, sind nicht in starren Beeten voneinander getrennt. Und alle Blumen – es gibt keine einzige, die abweicht – sind weiß.
Ich laufe weiter, genieße die frische Luft. Und bemerke: Auch mein Heuschnupfen ist verschwunden. Die Sonne scheint, es ist warm aber nicht heiß. Einfach absolut angenehm. Was für ein wunderbarer Ort. Vögel sitzen auf den Apfelbäumen, die sich überall verteilen. Sie singen entspannt ihr Lied, es klingt beschwingt, nach Vorfreude. Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Ich habe ein gutes Gefühl an diesem Ort. Es fühlt sich unglaublich friedlich an, ohne jedes schlechtes Gefühl. 100 Prozent Freude.
Es scheint hier kein Zeitgefühl zu geben. Ich kann nicht sagen, ob ich nun schon zehn Minuten oder zwei Stunden laufe. Über die Wiesen, entlang der Blumenfelder voller weißer Rosen und Tulpen. Doch ich habe nicht das Bedürfnis, irgendwo rechtzeitig sein zu müssen. Ich bin ganz frei.
Auf einmal spüre ich, wie sich mein Herz erwärmt. Es fühlt sich an, als würde es kräftiger schlagen als im Moment zuvor. Zunächst bin ich überrascht, nicht sicher, was passiert. Und dann sehe ich jemanden. Eine Frau. Nun spüre ich regelrecht einen Drang, der mich zu ihr zieht. Meine Füße laufen wie auf einem Fließband. Es fühlt sich an, als würde ich fliegen und obwohl ich rasend schnell vorankomme, strengt mich die Bewegung überhaupt nicht an. Nach einer Mischung aus gefühlt unendlichem Warten und einer kurzen Sekunde stehe ich vor der Frau. Und mein gerade eben so stark pulsierendes Herz scheint zu erstarren.
Es handelt sich um eine ältere Frau. Sie ist nicht sonderlich groß, fast einen halben Kopf kleiner als ich. Ihre Haare tragen einen sanften Ton zwischen Lila und Rot und sind ganz glatt. Sie reichen bis knapp übers Kinn. Sie hat eine leicht pummelige Statur – perfekt um sich gemütlich ran zu drücken. Sie trägt ein T-Shirt mit floralem Muster und eine hellblaue Jeanshose. Dazu ein Tuch, das unglaublich weich aussieht. An den Ohren hängen Perlenohrringe, eine Hand schmückt einen goldenen Ring, in den ein auffällig großer, mintgrüner Stein eingefasst ist.
Mir bleibt die Luft weg. Ich stehe vor meinen Omas. Nur dass sie ein und dieselbe Person sind/ist. Es ist, als hätten sie sich hier getroffen und wären eins geworden. Und nun steht sie hier vor mir. Sie schenkt mir ein warmes Lächeln und streckt die Arme aus. Ich überlege keine Millisekunde und werfe mich hinein. Mein Herz nimmt das Schlagen wieder auf und mein Körper füllt sich mit Wärme. Mit Liebe. Und zwar die unwiderrufliche Art von Liebe: kompromisslos, unveränderlich, ewig.
Ich weiß nicht, wie lange wir so ineinander umarmt dastehen. Und es kümmert mich auch nicht. Ich genieße es, nehme den Moment zu 100 Prozent wahr. Ich spüre, wie Tränen meine Wange hinab laufen. Freudentränen. Sie streichelt mein Haar und drückt mich fest. Als ich ihr ins Gesicht sehen möchte, küsst sie mich sanft auf die Stirn. Nach welcher Ewigkeit auch immer, lösen wir uns voneinander und lächeln uns an. Sie wischt meine Tränen weg und zeigt zu einer Bank, die plötzlich neben uns steht. Ich hatte sie bislang nicht bemerkt. Ich nicke und wir setzen uns.
Ich beginne zu erzählen. Von der Zeit, seit sie nicht mehr bei uns auf der Erde ist. Ich erzähle von Familienfesten, Feiertagen, Freunden. Von neuen Hundebekanntschaften, Tenniserfolgen und einem neuen Freund. Ich stelle schnell fest, dass sie nicht spricht. Sie hört unerlässlich zu und ihr Lächeln verlässt nie ihr Gesicht. Aber sie selbst bleibt stumm. Wieder habe ich keinerlei Zeitgefühl. Ich weiß, dass sie mir immer zuhören wird, aber auch, dass ich nicht für immer an diesem friedlichen Ort bleiben kann. Es kommt der Zeitpunkt, an dem ich mich entschuldige. An dem ich sage, wie unendlich leid es mir tut, dass sie unsere Welt verlassen musste. Doch sie schüttelt den Kopf. Sie will mich beruhigen, denn sie hat das Geschehene akzeptiert. Wieder steigen mir Tränen in die Augen und sie umarmt mich fest. Irgendwann fasse ich den Gedanken, dass ich aufbrechen muss. Ich muss zurück gehen. Als ich aufstehe, begleitet sie mich ein Stück. Als sich unsere Wege trennen, kullert erneut eine Träne meine Wange hinunter. Wieder schüttelt sie den Kopf, wischt die Träne weg und gibt mir nochmals einen Kuss auf die Stirn. Dann drückt sie mich fest und schickt mich an, meinen Weg fortzusetzen. Ich habe das Bedürfnis, etwas von mir bei ihr zu lassen. Ich weiß nicht, ob es funktioniert, doch ich will es versuchen. Ich greife an meinen Hals, doch da ist nichts. Da fällt es mir wieder ein: das geheimnisvolle Kästchen, das meine Kette bewacht. Wie aus dem Nichts erscheint es vor mir. Ich öffne es und greife nach dem Herz-förmigen Medaillon. „Ich möchte, dass du es hast“, sage ich leise. Sie lächelt und als sie mir die Kette aus der Hand nimmt, berührt sich unsere Haut. Es ist ein unglaublich warmes Gefühl. Ich küsse sie auf die Wange. „Ich liebe dich. Für immer. Jeden einzelnen Tag“, sage ich. Ich atme tief durch, fange an mich langsam umzudrehen und gehe los. Nach wenigen Metern halte ich inne, blicke nochmal zurück. Sie sieht zu mir, will sich vergewissern, dass ich sicher meinen Weg gehe. „Danke dir für alles“, sage ich noch, bevor ich weiterlaufe. Auf Wiesen zwischen Apfelbäumen und Blumenfeldern voller weißer Rosen und Tulpen. Ich finde die Tür genauso vor, wie ich sie verlassen habe. Ohne Zögern und einen Blick zurück, ergreife ich den Türgriff und schreite hindurch.
P.S.: Dieser Blog-Artikel ist mein Beitrag zur 3. Runde der Seppo Blog-Auszeichnung 2016. Hintergrundinfos dazu und Links zu den Texten der anderen teilnehmenden Blogger findet ihr hier. Meinen Beitrag zu Runde 2 gibt’s hier.
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