Am 20. April ist Tim Bergling, besser bekannt als Avicii, im Alter von nur 28 Jahren gestorben. Ich kenne einige seiner berühmten Lieder, habe sicher zu vielen schon wild getanzt. Aber ich war kein direkter Fan. Ich habe am Wochenende die kürzlich veröffentlichte Dokumentation „True Stories“ auf dem Streaming-Anbieter Netflix gesehen. Dabei kamen mir Gedanken, die ich aufschreiben wollte. Und hier sind sie nun gelandet. Gedanken zum Tod des Musikstars. Aber gleichzeitig Gedanken zu dieser schnellebigen Zeit, in der vor allem einfühlsame, introvertierte und ängstliche Menschen auf der Strecke bleiben.
„Ich sagte ihnen immer wieder, dass ich nicht mehr spielen kann. Ich sagte ihnen, dass es mich umbringt“ – ein Zitat von Tim Bergling, besser bekannt als Star-DJ Avicii. „Er versteht den Wert des Geldes nicht oder dass seine [Anm: Aviciis‘] Entscheidungen sich negativ auf andere auswirken können“ – ein Zitat von Arash Pournouri, seinem Manager.
Der junge Schwede brauchte lange, um sich das selbst einzugestehen. Zu erkennen, was ihm gut tut und was nicht. Und um zu akzeptieren, dass er einen Cut machen musste. Die Angst und Schuldgefühle, Team, Fans, Agentur zu enttäuschen müssen erdrückend gewesen sein. Sich gegen all diese Menschen zu stellen und für den eigenen Körper und die eigenen Emotionen einzustehen, muss eine große Überwindung gewesen sein. Und dann schafft er es doch, das zu verstehen und auf seinen Körper zu hören, entschleunigt sein Leben, um doch nur wieder überredet zu werden, weitere Shows zu spielen und die aktuelle Tour zu beenden. Selbst Gigs, die er ganz klar canceln wollte, werden teilweise einfach nicht abgesagt. Booker hoffen einfach darauf, dass der Schwede es sich anders überlegt. Ich kann nicht sagen, ob das gängige Praxis im Musikbusiness ist. Oder ob das schwarze Schafe sind. Aber zu sehen, wie mit dem Musiktalent umgegangen wurde, ist keine leichte Kost.
Im Nachhinein urteilt es sich natürlich immer einfach. Bequem auf der Couch sitzend verfolge ich diese Dokumentation über den weltbekannten Musiker. Und wundere mich, wie all diese Menschen um ihn herum nicht erkennen konnten, wie schlecht es ihm mit den Auftritten, dem Stress, dem nie enden wollenden Terminplan ging. Viel schlimmer noch: Ich wette, einige – wenn nicht alle – haben das sehr wohl erkannt. Doch die Profitgier siegt über Bedenken. Es wirkt, als wäre Avicii eine Kuh gewesen, aus der maximal viel Milch gemolken werden sollte. Geld ist wichtiger als der Mensch. In diesem Fall betrifft es einen Weltstar, den Menschen überall kennen. Daher hat dieser Fall eine unheimlich große Reichweite. Gleichzeitig muss ich an den einfachen Arbeiter oder die alleinerziehende Mutter denken, die kaum einer kennt, die aber ähnliche Probleme belasten. Psychische Probleme sind existent. Wurden sie früher vielleicht nicht festgestellt, ignoriert und nicht therapiert, wird heutzutage immerhin ab und an offen darüber gesprochen. Aber auch dann muss sich oftmals erst jemand stark machen, um diese Gedanken in die Öffentlichkeit zu rücken. Man denke an Teresa Enke, die nach dem Suizid ihres Mannes für die Anerkennung und Behandlung von Depressionen kämpft. Ich lese in den letzten Tagen öfter auf Twitter von Menschen, die mutig genug sind, ihre Probleme zu erkennen. Psychische Probleme einzugestehen, öffentlich darüber zu reden und sich Hilfe zu suchen. Es braucht mehr von diesen Menschen. Burnout und Depressionen sind Krankheiten, die in unserer Gesellschaft passieren und Menschen krank machen.
So kitschig der Vergleich sein mag. Aber stellt euch vor, Menschen sind Blumen. Ganz verschiedene. Da gibt es Unkraut: Das schlägt sich überall durch. Es gibt Gänseblümchen, vielleicht etwas empfindlicher als Löwenzahn, aber kommen doch noch mit sehr vielem problemlos klar. Und dann gibt es Pusteblumen. Wunderschön anzusehen, aber auch empfindlicher. Es muss nicht heißen, dass sie sich verletzen müssen und Blüten verlieren. Und doch ist das Risiko höher, sollte einmal stärkerer Wind aufziehen.
„Da du so gut darin bist, dich von Dingen zu überzeugen, versuch dir zu sagen, dass es die beste Nacht deines Lebens wird“ – Zitat eines Crewmitglieds kurz vor dem letzten Tourauftritt in Ibiza. Man mag es als aufmunternde Worte verstehen. Auf mich klingt es von oben herab und ironisch. „Es ist der letzte Abend, es gibt keinen Grund, nervös zu sein.“ Genauso gut kann man einem Depressiven sagen, er müsse nicht traurig sein, es sei doch alles gut. Dann erinnert der Mitarbeiter an den letzten Gig: „Im Flugzeug warst du total nervös, aber nach 15 Minuten deines Sets fandest du es toll.“ Avicii: „Ich war die letzte Woche extrem gestresst.“ Hat diesem Menschen eigentlich überhaupt jemand tatsächlich zugehört?
Nach diesem letzten Auftritt 2016 nimmt er sich endlich eine Auszeit. Und lebt auf einer Trauminsel seinen Traum von der Musik. Spielen, komponieren, Songs entwickeln. Ohne kreischendes Publikum, ohne Druck. Ohne vollen Terminkalender und Deadlines. „Ich fühle mich wie mit 18, vielleicht. Ich bin in der gleichen Stimmung wie damals“, erzählt Tim Bergling in dieser Zeit. Es erinnert mich ein wenig an den Verlauf bei Krebspatienten. Soweit ich es selbst miterlebt habe und so wie ich es auch in Artikeln zum Thema lese, erfährt der Schwerkranke oftmals noch einen Aufschwung vor seinem Tod. An diese kurze Hochphase erinnert mich der Inselaufenthalt des Schweden. Es muss leider schon zu spät gewesen sein, um Seele und Körper zu retten.
Es ist ein seltsamer Zeitpunkt für die Veröffentlichung dieser Dokumentation. Seit 31. März ist der Film beim Streaming-Anbieter Netflix zu sehen. Am 20. April ist Tim Bergling im Alter von 28 Jahren tot aufgefunden worden. Zum Zeitpunkt dieses Artikels war die Todesursache noch nicht bekannt.
Hinweis: Ich möchte mich davon freisprechen, als Expertin für Medizin oder Depressionen aufzutreten. Dieser Text entspringt meinem persönlichen Empfinden und greift Schwarz auf Weiß Gedanken auf, die mir während der Dokumentation „True Stories“ aufgekommen sind.
Ihr habt Probleme mit Depressionen? Bitte wendet euch an Fachleute. Erzählt Vertrauten davon. Behaltet es nicht für euch. Sucht euch Hilfe. Niemand hat es verdient, krank zu sein. Beratungsstellen könnt ihr zum Beispiel hier finden.
2 Kommentare
Dein Beitrag ist wirklich gut geworden. Man hat dem Jungen ja auch nach seiner Gallen OP geraten weiter zu machen. Ich hatte mit 25 auch so eine OP und weiss, dass er hätte sich ausruhen sollen. Die paar Tage nach dem Eingriff und dann nochmal 4 Wochen Ruhe. Da habe ich damals auch schon gesagt „na so gut ist das jetzt aber nicht für den Jungen“.
Dein Artikel ist deswegen nämlich auch nochmal sehr interessant. Man kann also alle Anzeichen sehen, aber die Geldgeier wollten das nie.
Er tut mir unendlich Leid. Jetzt kann er im „Musik Himmel“ (zitat von Samu Haber) mit richtig coolen Leute spielen.
Rip Tim!
Xoxo Vanessa
Liebe Vanessa, vielen Dank für dein Feedback. Jetzt hat er seinen Frieden gefunden :-/ #ripavicii