Die blätternde Frau: von Musikfreundin über Mozart zur Margaret Court Arena
Es heißt ja, Gegensätze ziehen sich an. Gerade bei Paaren ist das oft der Fall. Bei mir trifft dieser gängige Spruch aber vor allem auf mich und eine meiner besten Freundinnen zu. Sie ist Vollblutmusikerin, spielt seit Kindestagen Klarinette und verbrachte schon während der Jugend zig Wochenenden auf Probewochenenden. Dort übt man Musizieren und oftmals arbeiten die Teilnehmer auch an ihrer Trinkfestigkeit.
Wir lernten uns in der fünften Klasse kennen, nach dem Wechsel aufs Gymnasium. Sie wird bei diesen Worten die Augen rollen, aber wir müssen ja bei der Wahrheit bleiben: Bis zur sechsten Klasse mochte sie mich nicht. Erst dann konnte ich ihr Herz mit meinem sagenhaften Humor und meinem Dackelblick für mich erwärmen. Erinnere ich sie heute daran, antwortet sie stets: „11-Jährige haben halt keine Ahnung.“ Wo sie Recht hat. Sie kommt aus einem Nachbardorf, wo der pfälzische Dialekt noch allen in die Wiege gelegt wird. Ich hingegen wurde ermahnt, zuhause Hochdeutsch zu reden. Das ist auch der Grund, warum ich meinen Kölner Freunden leider die Sprache meiner Heimat nicht vermitteln kann. Mehr als Grumbeersupp mit Geeleriewe bringe ich leider nicht zusammen. Dieses sprachliche Unvermögen meinerseits sorgte dafür, dass ich bei Musikfreundin zuhause anfangs kaum ein Wort verstand – sehr zur Belustigung ihrer Familie. Was mein Magen hingegen sehr wohl verstand, war die Qualität der kulinarischen Gerichte, die ich dort aufgesetzt bekam. Noch heute wartet immer eine leckere Speise, wenn ich ihre Familie in der Pfalz besuche. Ich befürworte das aufs Stärkste!
Bis zum Abitur gedieh unsere Freundschaft prächtig und ist bis heute – trotz inzwischen rund 260 Kilometern Entfernung ungebrochen. Sie bugsierte mich durch die Musikstunden in der Schule und lehrte mich das Notenlesen. In der Oberstufe musste ich wie jeder ein künstlerisches Fach belegen. Ich wählte Musik, schließlich wollte meine Freundin mich bis zum Abitur durchbringen. Seit vielen Jahren hatte es immer ausschließlich einen Musik-Grundkurs gegeben. Es war mein Unglück, dass es ausgerechnet in unserem Jahrgang zwei gab. Es versteht sich von selbst, dass wir natürlich nicht in dem gleichen Kurs landeten. Meine Musikkurs-Karriere dauerte bis zur ersten Klausur an, die ich trotz Lernen mit sensationellen vier Punkten absolvierte. Für mich war klar: Hier ist Ende. Ich wählte Musik ab. Klingt erstmal nach einer guten Entscheidung. Das hatte allerdings zur Folge, dass ich in der 12. Klasse Bildende Kunst belegen musste. Wie das für mich ausging, könnt ihr in einem Klassiker dieses Blogs nachlesen: hier entlang.
Heute beschränkt sich meine Beziehung zu Musik auf Streamingdienste, dazu abtanzen und Hintergrundberieselung zum Staubsaugen. Was für meine Musikfreundin Musik ist, ist für mich die Leidenschaft zum Tennis. Davon versteht sie genauso viel wie ich von ihrer Passion – quasi nichts. Ich weiß, es gibt Instrumente und Klarinette ist ein Holzblasinstrument. Ende. Sie weiß, Tennis ist ein Sport und der wird mit gelben Filzbällen gespielt. Ende. Gegensätze ziehen sich eben an. Das Schöne daran ist, dass man einander trotzdem gut versteht und die Sachen sich sogar sehr gut vergleichen lassen. Wie im Tennis hat man auch in der Musik mal eine gute oder schlechte Tagesform. Mal trifft man alles – jeden Ball beziehungsweise jede Note – und an manchen Tagen geht einfach gar nichts.
Diese Woche hat Musikfreundin zum Abschlusskonzert ihres Master-Studiengangs eingeladen. Ich war schon bei ihrem Bachelor-Abschlusskonzert dabei und wollte dieses Ereignis auch dieses Mal nicht verpassen. Ich zog damit den Musikexperten-Durchschnitt im Saal um viele Prozentpunkte nach unten. Für mich ist solch eine Prüfung jedes Mal wieder faszinierend. Sie war auch eigentlich der Grund für diesen Artikel. Ich vermute, viele meiner Freunde haben keine Ahnung wie solch eine Veranstaltung abläuft. Zunächst einmal ist sie öffentlich. Quasi ein hochklassiges Konzert für umme, wie der Pfälzer sagen würde (heißt kostenlos). Dauer in diesem Fall: 50 Minuten. Zu hören gab‘s etwas Mozart, etwas Weber und einen „modernen Kollegen“, der auf den Namen Jörg Widmann hört. Modern bedeutet in der klassischen Musik übrigens weniger als 50 Jahre. Es kamen weitere Musikschüler, Verwandte und Freunde. Das ist also, als wenn deine Oma dir bei deiner Abiturprüfung über die Schulter schauen würde. Und dann sitzt du da nicht in Jeans und T-Shirt – oder gar Jogginghose. Als Musikabsolvent kommst du in Abendmode, in dem Fall trug Musikfreundin ein bodenlanges, blaues Kleid. Außerdem muss man sich die nötigen Begleitungen organisieren. Bei ihren Stücken waren das eine Bratschistin sowie zwei Pianistinnen. Wieso gleich zwei? Das liegt schlicht daran, dass eben jeder Musikmensch seinen eigenen Stil hat. Und jede der beiden besser zu einem Stück gepasst hat. Und es gibt noch einen Vorteil, wenn man zwei Damen mit Zauberkünsten am Klavier parat hat: Die eine kann für die andere umblättern. Denn bei den anspruchsvollen Werken waren stets alle zehn Finger im Einsatz, da hat man einfach keine Hand mehr frei. Was simpel klingt, versetzt mich immer wieder ins Staunen. Wer wie ich so grade Noten lesen kann, kann die Faszination vielleicht nachvollziehen. Die Blätterdame sitzt still neben dem Klavier in Reichweite der Noten und verfolgt das Spiel der Pianistin, die grade über die Tasten fliegt. Im richtigen Moment steht sie auf, blättert und nimmt wieder Platz. Als musikalischer Mensch lacht man sicher über mein beeindrucktes Wesen. Aber dass die Blätterdame stets weiß, an welcher Stelle die Pianistin gerade ist – und wir reden ja hier nicht von Stücken wie Hänschen Klein – lässt mir quasi nonstop den Mund offen stehen. An diesem Abend hat meine talentierte Musikfreundin erfolgreich ihr Masterstudium beendet. Mit einer klasse Performance hat sie die versammelte Jury begeistert. Nach einem verdienten Dinner beim Mexikaner ging’s zurück zu ihr nach Saarbrücken.
(Fun Fact: Das Saarland hat insgesamt weniger Einwohner als Köln.)
Wir kamen gerade rechtzeitig nach Hause, sodass ich zum ersten Aufschlag von Angelique Kerber auf der Couch saß. Da war ich dann wieder in meinem Metier rund um den gelben Filzball.
1 Kommentar
Schöner Artikel! Ich würde mich beim nächsten Mal über ein paar Bilder freuen 🙂