Entschuldigung, haben Sie mein Ziel gesehen?
Es ist fast komplett windstill. Ich stehe auf einem Sprungbrett in einem Schwimmbad. Ich sehe mich um. Zu meiner rechten und linken Seite befinden sich weitere Türme mit den gleichen Sprungbrettern. Auf manchen stehen Menschen, aber nicht auf allen. Da sind andere Personen, die gerade erst die Leiter des Sprungturms ergreifen und ihren Fuß auf die erste Stufe setzen. Ich blicke nach vorn. Ich erkenne Menschen im Wasser. Wie es aussieht, sind sie vor Kurzem erst hineingesprungen. Die haben bestimmt weniger Höhenangst als ich… Ich stehe jedenfalls hier. Die Leiter habe ich hinter mir gelassen, nun befinde ich mich mit beiden Füßen fest und sicher auf dem Brett. Und frage mich: Und jetzt? Wie lange stehe ich hier schon? Was kommt nun?
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Vor nicht mal zwei Wochen hat eine meiner besten und längsten Freundinnen das Wunder vollbracht, ein Kind auszutragen. Ein neuer Mensch ist über Monate hinweg in ihr herangewachsen und hat sie und ihren Mann zu glücklichen und müden Eltern gemacht.
Vor etwas mehr als zwei Wochen erreicht mich eine frohe Kunde aus Japan. Wieder von einer meiner Heimatfreundinnen, die ich seit der Kindergartenzeit kenne. Meine vor mehreren Jahren ins Land des Lächelns ausgewanderte Freundin und ihr Freund haben sich verlobt.
Vor weniger als einer Woche war ich zu Gast auf einer Beerdigung. „Gast sein“ klingt nicht würdevoll genug, wundere ich mich und frage mich, welche Formulierung es besser treffen würde. Einfach weglassen, denke ich. Na gut: Vor weniger als einer Woche war ich zu Gast auf einer Beerdigung. Soweit ich mich erinnere, müsste das die dritte gewesen sein, die ich besucht habe. So traurig Beerdigungen sind: Ich finde es sehr tröstlich zu sehen, wie Familienangehörige von nah und fern zusammenkommen, um in diesen schweren Stunden die Last der Trauer gemeinsam zu tragen. Auch wenn meine geliebten Omas nun schon vor Jahren gestorben sind und ich mit dem Thema Abschied also vertraut sein sollte, fällt mir das schlichte Begreifen auch jetzt wieder schwer. Ein Mensch ist von einem Moment auf den anderen nicht mehr greifbar. Eben noch da, dann für immer fort.
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Solche großen Tage – Geburten, Verlobungen, Beerdigungen – wirken auf mich wie ein Schwung kaltes Wasser ins Gesicht. Wie das Aufsetzen einer neuen Brille, nachdem die eigenen Augen zunehmend unschärfer wurden. Wie das Aufdecken eines Kartengebiets, nachdem ich zuvor orientierungslos herumgeirrt bin. In solchen Momenten atme ich tief durch, vergesse Alltagsquerelen und den Terminkalender der nächsten Wochen. Und dann sehe ich von außen auf mich herab und fühle, wie ich auf diesem Sprungbrett stehe. Da sind Freunde, die bereits im Wasser schwimmen. Wieder anderen bin ich einen Schritt voraus, während sie noch die Leiter des Sprungturms erklimmen. Und ich stehe jetzt da. Und nun? Soll ich jetzt springen? Bin ich schon soweit? Vielleicht warte ich noch lieber. Aber worauf? Wo will ich denn eigentlich hin? Da wo ich jetzt bin, geht es mir gut. Ich mag die Aussicht. Aber vielleicht ist das Wasser sehr angenehm? Vielleicht aber auch eisig kalt? Ob jemand mit mir springt? Oder ob keiner hinterherkommt? Was, wenn sie mich stattdessen überholen? Nein, sage ich mir. Hab keine Sorge. Du findest dein Tempo, du entscheidest, wann du springst. Ob du springst. Oder ob du erstmal wieder vom Turm kletterst. Ich entscheide. Genau. Aber wofür bloß? Und wann?
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Das Leben ist eine Serie mit einem Drehbuch, in dem man selbst die Hauptrolle spielt. In dem man selbst den Weg bestimmt, das Pacing, die Twists, die Drehorte – einfach alles, was seine eigene Rolle betrifft. Und dann gibt es die anderen Akteure, die selbstständig Entscheidungen treffen. Mit manchen tun wir uns zusammen. Von manchen trennen wir uns. Manche sehen wir nach vielen Staffeln wieder. Kennt ihr Menschen, die bei einem neuen Buch direkt zum Ende blättern und den letzten Satz oder das letzte Kapitel lesen? Manchmal würde ich schon gerne neugierig spitzeln, was mein Leben bereithält. Wo es hin geht. Mit wem. Wann. Aber so funktioniert es nicht. Nur Wahrsager würden mir in diesem Punkt widersprechen… Also heißt es: To be continued.
2 Kommentare
Schöner Text, meine liebe Katharina!
Vielen Dank! Und Respekt für den flottesten Kommentar in der Zimmer 4-Geschichte 🙂